Stamm Heinz-Meinolf ,
Recensione: MANFRED LÜTZ, Der blockierte Riese: Psycho-Analyse der katholischen Kirche,
in
Antonianum, 77/2 (2002) p. 380-383
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Lütz ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Theologe. Er arbeitet als Chefarzt eines psychiatrischen Krankenhauses in Köln. Daneben wirkt er als Berater großer Wirtschaftsunternehmen. Gerade bei dieser letzten Tätigkeit suchte er stets nach mehr oder weniger allgemein bekannten Problemsituationen, an denen er bei seinen Vorträgen und Diskussionen die von ihm in der Nachfolge des österreichisch-amerikanischen Psychotherapeuten Paul Watzlawick vertretene systemisch-lösungsorientierte Psychotherapie erläutern konnte. Und da bot sich die katholische Kirche als der ideale «Patient» an. Denn «die katholische Kirche ist gewiss der erfolgloseste Selbstmörder der ganzen Menschheitsgeschichte. Zweitausend Jahre lang ist es ihr trotz eifriger Bemühungen nicht gelungen, sich selbst den Garaus zu machen. Da wäre von dieser merkwürdigen Einrichtung womöglich noch etwas zu lernen» (S. 10).
So entstand nach und nach eine Psycho-Analyse der gesamten katholischen Kirche. Das eigentliche Anliegen von Lütz bleibt aber immer, seine systemisch-lösungsorientierte Psychotherapie darzustellen. Die Psycho-Analyse der katholischen Kirche dient lediglich als anschauliches Beispiel. «Die Situation der katholischen Kirche erinnert nämlich geradezu penetrant an die schwierigste Familienkonstellation, die wir so kennen - die der Alkoholikerfamilie: Spaltungen, Depressionen, Abwertungen, Überverantwortlichkeit, Rollendiffusionen, Überlastung aller Beteiligten. Man kann den Alkoholismus geradezu als Selbstmord auf Raten bezeichnen, der ganze Familien ins Verderben stürzt... Aber aus fachlicher Sicht gibt es Hinweise, dass die Aussichten auf einen Erfolg der Therapie gar nicht so schlecht stehen, wie man auf den ersten Blick denkt. Es ist da mit einigen erstaunlichen Ergebnissen zu rechnen... Vielleicht wird er [der Katholik] überrascht sein, dass ein Psychotherapeut den Patienten Kirche für gar keinen so aussichtslosen Fall hält» (S. 10-11).
Das Werk ist in acht Kapitel aufgeteilt: I. Einblicke - Vor der Therapie (S. 12-15); II. Der Patient - Zur Situation der katholischen Kirche (S. 16-34); III. Scheiternde Therapien - Über schlechte Erfahrungen mit der Psychotherapie (S. 35- 39); IV. Skeptische Hoffnung - Der Paradigmenwechsel in der Psychotherapie (S. 40-50); V. Blockierungen - Sichere Wege zum Unglücklichsein und ihre sorgfältigen kirchlichen Umsetzungen (S. 51-63); VI. Lösungen - Was die Kirche über die Verwendung von Ochsen und Zahnlücken lernen kann (S. 64-88); VII. Der blockierte Riese - Über die Kräfte der katholischen Kirche (S. 89-174); VIII. Der entfesselte Riese - Ausblicke nach der Therapie (S. 175-186). Ein Literaturverzeichnis (S. 202-205) sowie ein Stichwortverzeichnis (S. 206-208) schließen das Werk ab.
Auf den ersten Blick wirkt die katholische Kirche wie ein aussichtsloser Fall. Vieles erinnert an eine ausgebrannte Alkoholikerfamilie voller leer laufender Pseudoaktivitäten. Die Mitglieder sind allesamt erschöpft, und man würde sie am liebsten auf die verschiedenen Kliniken verteilen. Trotzdem traut sich aber bisher niemand, die künstliche Beatmung durch die Kirchensteuer abzustellen.
Mit der traditionellen klassischen Psychoanalyse sind offensichtlich keine durchschlagenden Erfolge zu erzielen. Die Fokussierung auf Defizite erweist sich als therapeutisch wenig nützlich. Häufig genug verschlimmert die klassische Psychoanalyse den Krankheitszustand nur noch. Da tut man gut daran, den in Amerika bereits vollzogenen Paradigmenwechsel in der Psychotherapie mit zu vollziehen: weg von der ausgeprägten Pathologiezentrierung und Problemorientierung und hin zu einer modernen systemischen und lösungsorientierten Psychotherapieform. Dabei ist der Hauptstrom der systemischen Therapie entschieden ressourcenorientiert, d.h. es werden vor allem die Kräfte des Patienten selbst gewürdigt und gestärkt.
Vier Wege führen nach der systemischen Richtung mit Sicherheit zum Unglücklichsein: das Utopiesyndrom, die großen Vereinfachungen, die Starrheit der Rollen und die ahistorische Einstellung. Auf diese berüchtigte Viererbande setzt mit professioneller Sorgfalt immer wieder auch die katholische Kirche und braust prompt mit Vollgas in die entsprechenden Sackgassen.
Das Utopiesyndrom besteht darin, dass man nach dem Unerreichbaren strebt und dadurch die Verwirklichung des Möglichen verhindert. Ein Wochenendseminar über das Thema «Wir träumen eine Kirche» führt garantiert zu Enttäuschungen und Depressionen. Bei den großen Vereinfachungen meint man vorschnell, alles auf einen Nenner bringen zu können: Das und das müsse genau so und so sein. Da das in der konkreten Wirklichkeit natürlich so nicht möglich ist, bricht folgerichtig alles zusammen. Die Starrheit der Rollen bewirkt bei Veränderung eine völlige Desorientierung. «In der Kirche könnte die Abschaffung des Zölibats, die Einführung des Frauenpriestertums, die Anpassung der Sexualmoral und die Einführung der Demokratie vielleicht gerade bei denjenigen, die das seit langem fordern, eine erhebliche Krise auslösen, fielen doch damit Themen schlagartig weg, die wesentlicher Inhalt ihres kirchlichen Engagements waren» (S. 60). Die ahistorische Einstellung verleitet immer wieder dazu, das zu tun, was doch erfahrungsgemäß nicht funktioniert, und manövriert damit zielsicher in eine psychische Störung hinein.
Umgekehrt entdeckt man, wenn man näher hinsieht, bei der katholischen Kirche auch ungeahnte und - aus der Sicht der systemischen Richtung - positive Kräfte. Zu denken wäre da etwa an die Fähigkeit, Lösungen zweiter Ordnung zuzulassen, d.h. wenn die direkte Lösung eines Problems nicht möglich ist, sich mit irgendeinem raffinierten Trick gekonnt aus der Affäre zu ziehen. Zu denken wäre weiter an die problemlose Bereitschaft, die Vielfalt in der Einheit zu akzeptieren oder aus einem unkorrigierbaren Fehler eine Tugend zu machen.
Lütz öffnet in anschaulicher Weise und mit einer guten Prise rheinischen Humors die Augen für die neue systemisch-lösungsorientierte Psychotherapie. Er setzt diese Psychotherapie jedoch nicht absolut. Das Werk schließt mit dem Hinweis: «Bei aller Originalität der hier dargestellten Psychotherapieverfahren und der ihnen zu verdankenden Ergebnisse bleibt aber zum Schluss noch einmal daran zu erinnern, dass es sich dabei nur um Auswege aus Sackgassen handelt. Vor allem wurde in diesem Buch nur eine bestimmte - freilich bedeutende - Therapierichtung dargestellt. Auch die ist weder unfehlbar noch exklusiv. Es gibt viele andere bewährte Therapiemethoden» (S. 188).
Der zu Anfang ausgesprochene Wunsch des Autors wird sich mit Sicherheit erfüllen: «Für denjenigen, der den lieben Gott einen guten Mann sein lassen will und dem die Kirche ein böhmisches Dorf ist, kann dieses Buch Aufschluss über die moderne Psychotherapie und über ein vielleicht unterhaltsames Therapiebeispiel geben... Für den Christen, zumal für den Katholiken, werden andere Aspekte im Vordergrund stehen. Er wird ebenfalls etwas über moderne Psychotherapie erfahren. Aber er wird die Darstellung der Kirchengeschichte als die eigene "Familiengeschichte" lesen mit all den "Familienmythen" und traumatischen Krisen. Er ist ja Teil dieser "Alkoholikerfamilie", und so werden ihn vor allem die Lösungen interessieren, die endlich Entlastung bringen könnten, die aus Sackgassen herausführen und Kräfte für die Zukunft freisetzen» (S. 11).
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