Die vorliegende Studie ist die stark erweiterte Fassung eines in der Sitzung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von Dieter Nörr, emer. Professor der Universität München, vorgetragenen Referates. Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, beim römischen Recht handele es sich um eine Summe von Regeln, allenfalls von Instituten, will die Untersuchung die Gattung einer juristischen Erörterung, Begutachtung und Entscheidung eines konkreten Falles und Einzelproblems vorstellen. Der Arescusa-Fall bietet ein ideales Exempel. Er ist nicht nur Stoff der wohl längsten Falldiskussion in den Digesten, einem Teil der justinianischen Kodifikation, in Kraft getreten im Jahre 533, sondern enthält auch eine Vielzahl von Elementen für eine fast infinite Menge von weiteren juristischen Fragen.
Titius ist gestorben. Seinem namentlich nicht genannten Erben hat er durch Fideikommiss auferlegt, der Seia zwei zum Nachlass gehörende Sklaven - Stichus und Pamphilus - sowie eine Sklavin - Arescusa - zu übereignen. Der Seia wiederum hatte er durch Fideikommiss auferlegt, die drei Sklaven nach einem Jahr freizulassen. Die drei Sklaven bilden eine zusammengehörige Gruppe. Sie werden gemeinschaftlich vermacht und sollen auch gemeinschaftlich freigelassen werden. Als Seia die Sklaven nicht annimmt, verkauft der Erbe diese an Sempronius, obwohl Seia ihm das Fideikommiss mit der Auflage der Freilassung nach einem Jahr keineswegs erlassen hatte. Nach mehreren Jahren - einer der Sklaven empfängt sogar in dieser Zeit eine besondere Ausbildung - entschließt sich Sempronius, Arescusa freizulassen. Nach dem ius gentium bleibt er aber auch nach der Freilassung ihr Patron, dem sie reverentia und obsequium schuldet und von dem sie zur Leistung von opera verpflichtet werden kann. Jetzt erhalten die drei Kenntnis von dem Fideikommiss. So führen sie den Erben vor den praetor fideicommissa-rius. Stichus und Pamphilus verlangen die Freilassung, Arescusa protestiert dagegen, dass Sempronius ihr Patron geworden ist. Der praetor holt das re-sponsum des kaiserlichen Rechtsgelehrten Ulpianus ein und gibt allen dreien recht. Sie sind nun wieder als Dreiergruppe vereint, freigelassen und unter dem gemeinschaftlichen Patronat des Erben. Damit ist der Fall für sie juristisch zu Ende. Nicht zu Ende ist der Fall aber für Sempronius. Er strengt eine actio empti gegen den Erben an. Im Falle von Stichus und Pamphilus ist die Eviktionsgarantie verfallen. Denn mit der Freilassung durch den Erben hat Sempronius das habere licere verloren. Im Falle von Arescusa ist die Eviktionsgarantie nicht verfallen, da Sempronius selbst durch die Freilassung das habere licere aufgegeben hat. Sempronius verlangt also die Rückzahlung des Kaufpreises als Ausgleich für den Verlust des Patronats über Arescusa und versucht die Erstattung seiner Ausbildungskosten für den einen Sklaven durchzusetzen. Beide Ansprüche können nur mit Hilfe der bona-fides-YAau-sel der actio empti begründet werden. Es wird als Erstes das responsum des kaiserlichen Rechtsgelehrten Ulpianus eingeholt. Als dieses zu Ungunsten des Sempronius ausfällt, erinnert sich dieser an eine gegenteilige Entscheidung des kaiserlichen Rechtsgelehrten Iulianus. Schließlich wird auch der kaiserliche Rechtsgelehrte Paulus um sein responsum gebeten. So kommt es zu einer langwierigen und breit gefächerten rechtlichen Diskussion. Nörr schließt seine Ausführungen treffend mit der Feststellung: „Damit wären wir beim (unhandlichen) Thema der Effektivität der justinianischen Kodifikation angelangt" (S. 133).