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Recensione: ERNST FREIHERR VON CASTELL, Alkoholismus in der Rechtsprechung der Rota Romana (Adnotationes in ins canonicum, Band 4) hrsg. von Elmar Güthoff und Karl-Heinz Selge

 
 
 
Foto Schoch Nikolaus , Recensione: ERNST FREIHERR VON CASTELL, Alkoholismus in der Rechtsprechung der Rota Romana (Adnotationes in ins canonicum, Band 4) hrsg. von Elmar Güthoff und Karl-Heinz Selge , in Antonianum, 73/1 (1998) p. 189-194 .

Ernst Freiherr von Castell wirkt als Vizeoffizial und Domvikar der Diözese Augsburg. Mit seiner im Studienjahr 1994/95 an der Katholisch-Theologischen Fa­kultät der Ludwig-Maximilians Universität angenommenen Doktorarbeit wurde er zum Doktor des kanonischen Rechts promoviert. Der überarbeitete Text der Dis­sertation liegt nun als veröffentlichter Band vor.

Das erste und sehr kurze einführende Kapitel (23-30) beschäftigt sich mit den Voraussetzungen zur Ehefähigkeit. Grundsätzlich sind für den Alkoholismus alle drei Nichtigkeitsgründe des can. 1095 denkbar: 1) mangelnder Vernunftgebrauch; 2) mangelndes Urteilsvermögen; 3) Eheführungsunfähigkeit. Notwendig ist die Un­terscheidung zwischen dem kanonistischen Begriff des chronischen Alkoholismus als möglicher Ursache einer der drei in can. 1095 angeführten Nichtigkeitsgründe und der vagen sowie unterschiedlich in der medizinisch-psychiatrischen Literatur verwendeten Terminologie. Die Pflichten nach can. 1095,3° sind an den Wesensei­genschaften zu messen. Der Autor spricht sich jedoch gegen eine Reduktion auf diese Pflichten aus und befürwortet die Berücksichtigung weiterer Pflichten zur ganzheitlichen Lebensgestaltung. Er spricht sich zugunsten der Annahme der rela­tiven Konsensunfähigkeit aus, wenn eine Person aufgrund der ihr anhaftenden psy­chischen Störung unfähig ist, mit einem bestimmten Personenkreis eine Ehe zu führen, bzw. wenn bei beiden Partnern ein komplementärer Defekt vorliegt, der nicht für sich allein, sondern nur beim Zusammenleben mit dem konkreten ande­ren Partner eine echte Eheführungsunfähigkeit verursacht. Dann könnte ein Sinn­ziel der Ehe, nämlich das Gattenwohl, nicht verwirklicht werden. Die Beziehung führt nämlich in diesem Fall zu einem schweren Schaden für den Partner.

Das zweite Kapitel (31-76) handelt vom akuten Alkoholismus, während das dritte und ausführlichste dem chronischen Alkoholismus gewidmet ist (77-186). Beide Kapitel bestehen aus drei ähnlichen Abschnitten: der erste Abschnitt erläu­tert die medizinischen und psychologischen Grundlagen des akuten bzw. des chro­nischen Alkoholismus. Es folgt die Darlegung der entsprechenden Rotaurteile aus dem Zeitraum zwischen 1929 und 1989 und, in einem dritten Abschnitt, deren sys­tematische Auswertung, welche sich aus den dargelegten Urteilen gewinnen läßt. Jeder dieser Unterabschnitte schließt mit einer Kurzzusammenfassung.

Der Autor untersucht die Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Körper in seiner akuten Form und unterscheidet drei Phasen: Exzitationsstadium, Über­gangsphase und Lähmungsstadium. Kein Zweifel besteht am Mangel des Urteils­vermögens in der Übergangsphase und im Lähmungsstadium. Bei der Analyse der Judikatur stellt der Autor eine Entwicklung bei der Interpretation des actus huma-nus fest. Die Anforderungen an diesen werden immer differenzierter und damit die Grenzen der Konsensfähigkeit immer enger. Der Autor kritisiert die aus der Mo­raltheologie übernommene Lehre von der ebrietas perfecta. Wenn nur der vollstän­dige Verlust der Geistesgegenwart als eheverungültigend angesehen werden kann, dann ist es sinnlos von einem ausreichenden Vernunftgebrauch zu sprechen, der zur Konsensfähigkeit notwendig sei. Ebenso äußert er sich kritisch gegenüber Pom­pedda, der in einem Urteil vom 16. Dezember 1970 eine Schwächung des Willens und ein nicht mehr vollständiges Begreifen als Grund für die Ehenichtigkeit nennt. Beide Lehren werden der Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Körper nicht gerecht (66). Am überzeugendsten erscheint Castell das Urteil coram Rogers vom 22. Februar 1965. Es handelt sich zugleich um das erste affirmative Urteil auf­grund des akuten Alkoholismus. An ihm wird deutlich, daß die Schwelle der Kon­sensunfähigkeit immer tiefer angesetzt wurde. Die Lehre von der ebrietas perfecta wurde überwunden und man hielt es für ausreichend, wenn Nupturient nicht mehr vollständig begreift, was er tut. Hiernach liegt die Grenze der Konsensfähigkeit dort, wo der Betroffene aufgrund seines Alkoholkonsums nicht mehr in der Lage ist, ein kritisches, wertendes Urteil zu fällen. Auch die Erklärung des virtuellen Ehewillens erscheint unmöglich, denn bei Fehlen des actus humanus kann es weder zu einer echten Äußerung des aktuellen noch des virtuellen Willens kommen.

Die Auswirkungen des akuten Alkoholismus auf den Ehekonsens hängen ge­mäß der Auswertung der Judikatur durch den Autor von folgenden Kriterien ab: Quantität und Qualität des Getränkes, auffälliges Verhalten, unsicherer Gang, Störung des Sprechvermögens, Schreibunfähigkeit, Gedächtnisverlust und Erbre­chen. Filipiak sieht jedoch in den meisten dieser Phänomene nur Zeichen der Al­koholisierung, nicht aber einer vollständigen Betrunkenheit. Wenn jemand zwar schwankt und zittert, aber dennoch in der Lage ist, zu schreiben oder sein Jawort zu sprechen, so ist dies ein Zeichen für eine wenigstens minimale Zurechnungsfä­higkeit. Castell schlägt als zusätzliche Kriterien vor, von der Person auszugehen, von ihrem Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der Trauung, ihren Trinkgewohn­heiten, ihrem Körpergewicht etc. und andere Faktoren, welche die Wirkung des Al­kohols auf den Körper beeinflussen können. Akuter Alkoholismus macht jegliche Konsenserklärung, auch eine unter schwerer Furcht erzwungene, ebenso unmög­lich wie die Simulation. Es besteht ein schwerer Mangel an Urteilsvermögen (can. 1095, 2°). Der alkoholisierte Trauungspriester oder Diakon bedarf eines erheblich geringeren Maßes an Urteilsfähigkeit, als jenes, welches für die Brautleute vorge­sehen ist. Erfolgt der erste Geschlechtsverkehr in alkoholisiertem Zustand, so er­folgt er nicht humano modo und die Ehe wird als nicht vollzogen betrachtet.

Das dritte Kapitel (77-186) beschäftigt sich mit dem chronischen Alkoholis­mus. Die Menge des im Lauf der Zeit konsumierten Alkohols übertrifft bei weitem den vergleichbaren Durchschnittsmenschen. Es handelt sich weiters um einen Miß­brauch mit der Folge der Gefährdung des Betroffenen und seiner Umwelt. Die Ab­hängigkeit vom Alkohol ist seelischer und körperlicher Art. Die Erscheinungsfor­men des chronischen Alkoholismus stellt der Autor nach der anerkanntesten Typo­logie von E.M. Jellinek aus dem Jahr 1968, welche auch in der jüngeren Rotajudi-katur angewandt wird. Diese fünf verschiedenen Typen des chronischen Alkoholis­mus werden mit den Buchstaben des griechischen Alphabets benannt.

Eine zusätzlich beeinträchtigende Wirkung auf die Fähigkeit zum Ehekonsens geht von den mit dem chronischen Alkoholismus verbundenen psychoorganischen Störungen wie Alkoholhalluzinosen, delirium tremens, alkoholischer Korsakow-Psy-chose als schwerer hirnorganischer Störung und schließlich der alkoholischen De­menz aus.

Erst seit einem Urteil coram Sabattani vom 24. Februar 1961 erscheint der chronische Alkoholismus bei der Rota als Ursache für die Konsensunfähigkeit. Dieser Entwicklung der Rechtsprechung geht eine differenziertere Sicht des menschlichen Urteilsvermögens und der Eheführungsfähigkeit, die Rezeption der Ehelehre des II. Vatikanums mit der Sicht der Ehe als totius vitae consortium sowie der bedeutende Fortschritt der medizinisch-psychiatrischen Erkenntnisse über den chronischen Alkoholismus voraus. Zu Beginn wurde der chronische Alkoholismus unter mangelndem Vernunftgebrauch, dann unter mangelndem Urteilsvermögen und schließlich auch unter der Eheführungsunfähigkeit behandelt.

Es handelt sich um eine eigenständige Geisteskrankheit, die nicht mit Drogen­abhängigkeit gleichzusetzen ist. Der Alkoholismus ist nicht erblich, Kinder von Al­koholikern jedoch aufgrund des Beispiels mehr gefährdet. Bezüglich des Verlaufs des chronischen Alkoholismus unterscheidet man zwei Abschnitte: 1) latenter Al­koholismus, wobei sich der Betroffene trotz manchmal bereits schwerer Schäden unauffällig verhält und, 2) die akute Phase, in welcher die Krankheit voll zu Tage tritt.

Die Schädigungen betreffen die höheren geistigen Fähigkeiten. Es kommt zum Verfall des Intellekts, das Gedächtnis wird beeinträchtigt, die Willenskraft ge­schädigt, die Affektivität gestört, die Regeln der Ethik nicht mehr eingehalten und psychoorganische Schäden wie das Delirium tremens und die Korsakow-Psychose hervorgerufen.

Zur konkreten Prüfung der Konsensunfähigkeit verwenden die meisten Rota-Richter das Schema aus dem Urteil Sabattani's vom 24. Februar 1961: es sieht fünf Kriterien vor: 1) lange Dauer des toxischen Prozesses; 2) Schwere des toxischen Prozesses; 3) Einweisungen in psychiatrische Kliniken; 4) qualifizierte Zeichen von Wahnsinn; 5) der bereits mehr oder weniger eingetretene Effekt des moralischen Niedergangs. Palazzini fügt am 17. Mai 1972 organische Hirnschäden als weiteres Kriterium hinzu: diese seien der eigentliche Grund für den Niedergang des Alko­holikers.

Angesichts der unterschiedlichen Typen und der unterschiedlichen Entwick­lung des Alkoholismus besteht für die Rechtsprechungspraxis die Schwierigkeit, brauchbare Kriterien aufzustellen. Auf der Grundlage der verwendeten medizini­schen Literatur und der Ergebnissen seiner Analyse der Rotajudikatur stellt Castell einen eigenen, ausgewogenen, Kriterienkatalog zur Bewertung des chronischen Al­koholismus auf:

Langfristiger Alkoholmißbrauch; Alkoholabhängigkeit; Alkohol-bedingte We­sensänderung: verstärkte Affektivität mit in der Folge unüberlegtem Handeln, La­bilität, ausgeprägte Willensschwäche und Unfähigkeit, längerfristige Ziele anzu­streben; krankhafte Eigenbeziehung (Eifersucht und Verfolgungswahn); ausge­prägte Merkschwäche bis hin zur Gedächtnislücke; beruflicher Abstieg; Schwierig­keiten in der zwischenmenschlichen Beziehung: Verlust des Freundeskreises, Ehe­probleme, Isoliertheit und schließlich das Auftreten organischer und/oder psy­choorganischer  Schäden.   Der Autor  fügt  noch  ein  paar  Bemerkungen zur Bewertung der Beweismittel, insbesondere der Parteien- und Zeugenaussagen, hinzu und verweist darauf, daß den Zeugen die Schwere des Alkoholismus nicht immer klar vor Augen liegt und zwar vor allem aufgrund der sozialen Toleranz ge­genüber dem Alkoholmißbrauch, der Möglichkeit längerer Abschnitte von Absti­nenz, der sogenannten Maske der Normalität, welche die Abhängigkeit verdeckt, und schließlich die Selbsttäuschung bei der Partnerwahl.

Eine gewisse Selbstkritik an der eigenen Rechtsprechung sowie deren nicht vollständige Einheitlichkeit betrachtet Castell als eine der vornehmsten Aufgaben des höchsten Gerichts, weil nur so das Recht vor der Erstarrung bewahrt wird (187). Insgesamt betrachtet führte die Rechtsprechung der Rota in Bezug auf chro­nischen Alkoholismus zu mancher Klärung in Teilbereichen, aber noch nicht zu ei­ner klaren und wirklich eindeutigen Linie (188-189).

Die Fähigkeit zum Ehevertrag und zur Führung der Ehe wird kurz nach drei Autoren (Hartmut Zapp, Klaus Lüdicke und Joseph Prader) dargelegt. Da sich der Band mit der Rotajudikatur beschäftigt, wäre auch in diesem einleitenden Vorspann eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung in bezug auf die Kon­sensunfähigkeit und, insbesondere, die relative Konsensunfähigkeit notwendig gewesen. Die Rotajudikatur lehnt dieses Konzept vorwiegend, mit der konstanten und bekannten Ausnahme des spanischen Auditors Jose Serrano, ab. Die Darle­gung der Fälle umfaßt den Großteil des Textes (38-61 und 77-156). Es werden je­weils Sachverhalt, Rechts- und Sachlage vorgebracht. Die chronologische Darle­gung ist nützlich, um sich rasch einen Überblick über die Judikatur zu verschaffen. Obwohl das Buch im Jahr 1997 erschien, wurde die Bibliographie leider nicht auf den neuesten Stand gebracht. Inzwischen wurden nämlich die Urteile der Rö­mischen Rota bis einschließlich zum Jahr 1994 veröffentlicht und einige von ihnen beschäftigen sich mit dem Alkoholismus. Das letzte vom Autor berücksichtigte Ur­teil hingegen stammt vom 1. März 1989 und wird als unveröffentlicht bezeichnet, obwohl es bereits vor mehreren Jahren veröffentlicht wurde. Leider wurde sehr wi­chtige neuere psychiatrische Literatur nicht mehr eingebaut wie das DSM (Ameri­can Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical manual of mental disorders, ed. by A. Frances/H.A. Pincus/M.B. First, Washington D.C. 1994), welches in die­ser und in früheren Auflagen von der Rota vielfach, nicht zuletzt im Zusammen­hang mit dem Alkoholismus verwendet wird. Der Rota-Auditor Igino Ragni zitiert dessen dritte Auflage von 1980 in seinem Urteil vom 26. November 1965. Es ist da­her mißverständlich, wenn der Autor auf Seite 169 behauptet, daß Ragni das Alko­holdelirium und ähnliche Erscheinungen als organic mental disorders klassifiziert. Er übernimmt vielmehr diese Klassifikation vom DSM-III. Es würde die Kompe­tenz der Rotarichter zweifellos übersteigen, wenn sie im psychiatrischen Bereich selbst Klassifizierungen vornehmen würden. Ebenso für die Rechtsprechung, be­sonders im Europäischen Bereich, nicht mehr wegzudenken ist die Internationale Klassifikation psychischer Störungen : ICD-10 Kapitel V (F) ; Forschungskriterien/ Weltgesundheitsorganisation. Hrsg. von H. Dilling, 1. Aufl., Bern [u.a.] Huber, 1994 (Originaltitel: Tenth revision of the international Classification of diseases). Schließlich hätten die Ergebnisse einer eigenen Studientagung der Weltgesundhei­tsorganisation zum Thema Alkoholismus, welche von Lanversin eigens in seinem Urteil vom 1. März 1989 zitiert wurde, eingearbeitet werden müssen. Immer­hin handelt es sich um ein Werk, welches im Auftrag von niemand geringerem als der Weltgesundheitsorganisation in Genf von Marc Keller unter dem Titel «Inca-pacites liees ä la consommation d'alcool» im Jahr 1978 herausgegeben wurde. Der Großteil der verwendeten nur 14 (!) kanonistischen Literaturtitel ist allgemeiner Art und beschäftigt sich nicht speziell mit dem Alkoholismus. Die Literatur in spa­nischer Sprache blieb unberücksichtigt, ebenso die päpstlichen Ansprachen an die Römische Rota, besonders jene zur psychischen Eheunfähigkeit von 1987 und 1988.

Trotz des genannten Schwachpunkts der bibliografischen Unvollständigkeit, der mehr die wissenschaftliche Verwendung des Werks betrifft, erscheint das Werk für den Gerichtsgebrauch aufgrund seiner präzisen, übersichtlichen und klaren Darstellung als sehr nützlich und empfehlenswert. Kein Zweifel besteht an der prä­zisen Übersetzung der Fachausdrücke und an der Gabe des Autors, aus der Fülle des in jedem Urteil enthaltenen Materials das Wesentliche und über den einzelnen Fall hinaus Bedeutsame herauszugreifen. Weiters verfügt der Autor über einen objektiven und von aller Leidenschaft freien Stil, der es ihm stets erlaubt, sachlich und deutlich die sowohl im kanonistischen als auch psychiatrischen Bereich beste­henden unterschiedlichen Meinungen darzulegen, wobei er mit entsprechender Be­gründung dann seine eigene Ansicht anfügt. Für die Mitarbeiter der kirchlichen Gerichte unnötige medizinisch-psychiatrische Spitzfindigkeiten und Detailpro­bleme wurden klugerweise ausgelassen, um die flüssige Lektüre der Arbeit nicht zu behindern. Der Autor legt in seinem Werk weiters große Vertrautheit mit dem kirchlichen Ehenichtigkeitsprozeß an den Tag und hebt mit großem Scharfsinn und Vollständigkeit genau jene Problematiken hervor, die für den konkreten Gerichts­gebrauch von Bedeutung sind.