Ernst Freiherr von Castell wirkt als Vizeoffizial und Domvikar der Diözese Augsburg. Mit seiner im Studienjahr 1994/95 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians Universität angenommenen Doktorarbeit wurde er zum Doktor des kanonischen Rechts promoviert. Der überarbeitete Text der Dissertation liegt nun als veröffentlichter Band vor.
Das erste und sehr kurze einführende Kapitel (23-30) beschäftigt sich mit den Voraussetzungen zur Ehefähigkeit. Grundsätzlich sind für den Alkoholismus alle drei Nichtigkeitsgründe des can. 1095 denkbar: 1) mangelnder Vernunftgebrauch; 2) mangelndes Urteilsvermögen; 3) Eheführungsunfähigkeit. Notwendig ist die Unterscheidung zwischen dem kanonistischen Begriff des chronischen Alkoholismus als möglicher Ursache einer der drei in can. 1095 angeführten Nichtigkeitsgründe und der vagen sowie unterschiedlich in der medizinisch-psychiatrischen Literatur verwendeten Terminologie. Die Pflichten nach can. 1095,3° sind an den Wesenseigenschaften zu messen. Der Autor spricht sich jedoch gegen eine Reduktion auf diese Pflichten aus und befürwortet die Berücksichtigung weiterer Pflichten zur ganzheitlichen Lebensgestaltung. Er spricht sich zugunsten der Annahme der relativen Konsensunfähigkeit aus, wenn eine Person aufgrund der ihr anhaftenden psychischen Störung unfähig ist, mit einem bestimmten Personenkreis eine Ehe zu führen, bzw. wenn bei beiden Partnern ein komplementärer Defekt vorliegt, der nicht für sich allein, sondern nur beim Zusammenleben mit dem konkreten anderen Partner eine echte Eheführungsunfähigkeit verursacht. Dann könnte ein Sinnziel der Ehe, nämlich das Gattenwohl, nicht verwirklicht werden. Die Beziehung führt nämlich in diesem Fall zu einem schweren Schaden für den Partner.
Das zweite Kapitel (31-76) handelt vom akuten Alkoholismus, während das dritte und ausführlichste dem chronischen Alkoholismus gewidmet ist (77-186). Beide Kapitel bestehen aus drei ähnlichen Abschnitten: der erste Abschnitt erläutert die medizinischen und psychologischen Grundlagen des akuten bzw. des chronischen Alkoholismus. Es folgt die Darlegung der entsprechenden Rotaurteile aus dem Zeitraum zwischen 1929 und 1989 und, in einem dritten Abschnitt, deren systematische Auswertung, welche sich aus den dargelegten Urteilen gewinnen läßt. Jeder dieser Unterabschnitte schließt mit einer Kurzzusammenfassung.
Der Autor untersucht die Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Körper in seiner akuten Form und unterscheidet drei Phasen: Exzitationsstadium, Übergangsphase und Lähmungsstadium. Kein Zweifel besteht am Mangel des Urteilsvermögens in der Übergangsphase und im Lähmungsstadium. Bei der Analyse der Judikatur stellt der Autor eine Entwicklung bei der Interpretation des actus huma-nus fest. Die Anforderungen an diesen werden immer differenzierter und damit die Grenzen der Konsensfähigkeit immer enger. Der Autor kritisiert die aus der Moraltheologie übernommene Lehre von der ebrietas perfecta. Wenn nur der vollständige Verlust der Geistesgegenwart als eheverungültigend angesehen werden kann, dann ist es sinnlos von einem ausreichenden Vernunftgebrauch zu sprechen, der zur Konsensfähigkeit notwendig sei. Ebenso äußert er sich kritisch gegenüber Pompedda, der in einem Urteil vom 16. Dezember 1970 eine Schwächung des Willens und ein nicht mehr vollständiges Begreifen als Grund für die Ehenichtigkeit nennt. Beide Lehren werden der Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Körper nicht gerecht (66). Am überzeugendsten erscheint Castell das Urteil coram Rogers vom 22. Februar 1965. Es handelt sich zugleich um das erste affirmative Urteil aufgrund des akuten Alkoholismus. An ihm wird deutlich, daß die Schwelle der Konsensunfähigkeit immer tiefer angesetzt wurde. Die Lehre von der ebrietas perfecta wurde überwunden und man hielt es für ausreichend, wenn Nupturient nicht mehr vollständig begreift, was er tut. Hiernach liegt die Grenze der Konsensfähigkeit dort, wo der Betroffene aufgrund seines Alkoholkonsums nicht mehr in der Lage ist, ein kritisches, wertendes Urteil zu fällen. Auch die Erklärung des virtuellen Ehewillens erscheint unmöglich, denn bei Fehlen des actus humanus kann es weder zu einer echten Äußerung des aktuellen noch des virtuellen Willens kommen.
Die Auswirkungen des akuten Alkoholismus auf den Ehekonsens hängen gemäß der Auswertung der Judikatur durch den Autor von folgenden Kriterien ab: Quantität und Qualität des Getränkes, auffälliges Verhalten, unsicherer Gang, Störung des Sprechvermögens, Schreibunfähigkeit, Gedächtnisverlust und Erbrechen. Filipiak sieht jedoch in den meisten dieser Phänomene nur Zeichen der Alkoholisierung, nicht aber einer vollständigen Betrunkenheit. Wenn jemand zwar schwankt und zittert, aber dennoch in der Lage ist, zu schreiben oder sein Jawort zu sprechen, so ist dies ein Zeichen für eine wenigstens minimale Zurechnungsfähigkeit. Castell schlägt als zusätzliche Kriterien vor, von der Person auszugehen, von ihrem Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der Trauung, ihren Trinkgewohnheiten, ihrem Körpergewicht etc. und andere Faktoren, welche die Wirkung des Alkohols auf den Körper beeinflussen können. Akuter Alkoholismus macht jegliche Konsenserklärung, auch eine unter schwerer Furcht erzwungene, ebenso unmöglich wie die Simulation. Es besteht ein schwerer Mangel an Urteilsvermögen (can. 1095, 2°). Der alkoholisierte Trauungspriester oder Diakon bedarf eines erheblich geringeren Maßes an Urteilsfähigkeit, als jenes, welches für die Brautleute vorgesehen ist. Erfolgt der erste Geschlechtsverkehr in alkoholisiertem Zustand, so erfolgt er nicht humano modo und die Ehe wird als nicht vollzogen betrachtet.
Das dritte Kapitel (77-186) beschäftigt sich mit dem chronischen Alkoholismus. Die Menge des im Lauf der Zeit konsumierten Alkohols übertrifft bei weitem den vergleichbaren Durchschnittsmenschen. Es handelt sich weiters um einen Mißbrauch mit der Folge der Gefährdung des Betroffenen und seiner Umwelt. Die Abhängigkeit vom Alkohol ist seelischer und körperlicher Art. Die Erscheinungsformen des chronischen Alkoholismus stellt der Autor nach der anerkanntesten Typologie von E.M. Jellinek aus dem Jahr 1968, welche auch in der jüngeren Rotajudi-katur angewandt wird. Diese fünf verschiedenen Typen des chronischen Alkoholismus werden mit den Buchstaben des griechischen Alphabets benannt.
Eine zusätzlich beeinträchtigende Wirkung auf die Fähigkeit zum Ehekonsens geht von den mit dem chronischen Alkoholismus verbundenen psychoorganischen Störungen wie Alkoholhalluzinosen, delirium tremens, alkoholischer Korsakow-Psy-chose als schwerer hirnorganischer Störung und schließlich der alkoholischen Demenz aus.
Erst seit einem Urteil coram Sabattani vom 24. Februar 1961 erscheint der chronische Alkoholismus bei der Rota als Ursache für die Konsensunfähigkeit. Dieser Entwicklung der Rechtsprechung geht eine differenziertere Sicht des menschlichen Urteilsvermögens und der Eheführungsfähigkeit, die Rezeption der Ehelehre des II. Vatikanums mit der Sicht der Ehe als totius vitae consortium sowie der bedeutende Fortschritt der medizinisch-psychiatrischen Erkenntnisse über den chronischen Alkoholismus voraus. Zu Beginn wurde der chronische Alkoholismus unter mangelndem Vernunftgebrauch, dann unter mangelndem Urteilsvermögen und schließlich auch unter der Eheführungsunfähigkeit behandelt.
Es handelt sich um eine eigenständige Geisteskrankheit, die nicht mit Drogenabhängigkeit gleichzusetzen ist. Der Alkoholismus ist nicht erblich, Kinder von Alkoholikern jedoch aufgrund des Beispiels mehr gefährdet. Bezüglich des Verlaufs des chronischen Alkoholismus unterscheidet man zwei Abschnitte: 1) latenter Alkoholismus, wobei sich der Betroffene trotz manchmal bereits schwerer Schäden unauffällig verhält und, 2) die akute Phase, in welcher die Krankheit voll zu Tage tritt.
Die Schädigungen betreffen die höheren geistigen Fähigkeiten. Es kommt zum Verfall des Intellekts, das Gedächtnis wird beeinträchtigt, die Willenskraft geschädigt, die Affektivität gestört, die Regeln der Ethik nicht mehr eingehalten und psychoorganische Schäden wie das Delirium tremens und die Korsakow-Psychose hervorgerufen.
Zur konkreten Prüfung der Konsensunfähigkeit verwenden die meisten Rota-Richter das Schema aus dem Urteil Sabattani's vom 24. Februar 1961: es sieht fünf Kriterien vor: 1) lange Dauer des toxischen Prozesses; 2) Schwere des toxischen Prozesses; 3) Einweisungen in psychiatrische Kliniken; 4) qualifizierte Zeichen von Wahnsinn; 5) der bereits mehr oder weniger eingetretene Effekt des moralischen Niedergangs. Palazzini fügt am 17. Mai 1972 organische Hirnschäden als weiteres Kriterium hinzu: diese seien der eigentliche Grund für den Niedergang des Alkoholikers.
Angesichts der unterschiedlichen Typen und der unterschiedlichen Entwicklung des Alkoholismus besteht für die Rechtsprechungspraxis die Schwierigkeit, brauchbare Kriterien aufzustellen. Auf der Grundlage der verwendeten medizinischen Literatur und der Ergebnissen seiner Analyse der Rotajudikatur stellt Castell einen eigenen, ausgewogenen, Kriterienkatalog zur Bewertung des chronischen Alkoholismus auf:
Langfristiger Alkoholmißbrauch; Alkoholabhängigkeit; Alkohol-bedingte Wesensänderung: verstärkte Affektivität mit in der Folge unüberlegtem Handeln, Labilität, ausgeprägte Willensschwäche und Unfähigkeit, längerfristige Ziele anzustreben; krankhafte Eigenbeziehung (Eifersucht und Verfolgungswahn); ausgeprägte Merkschwäche bis hin zur Gedächtnislücke; beruflicher Abstieg; Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Beziehung: Verlust des Freundeskreises, Eheprobleme, Isoliertheit und schließlich das Auftreten organischer und/oder psychoorganischer Schäden. Der Autor fügt noch ein paar Bemerkungen zur Bewertung der Beweismittel, insbesondere der Parteien- und Zeugenaussagen, hinzu und verweist darauf, daß den Zeugen die Schwere des Alkoholismus nicht immer klar vor Augen liegt und zwar vor allem aufgrund der sozialen Toleranz gegenüber dem Alkoholmißbrauch, der Möglichkeit längerer Abschnitte von Abstinenz, der sogenannten Maske der Normalität, welche die Abhängigkeit verdeckt, und schließlich die Selbsttäuschung bei der Partnerwahl.
Eine gewisse Selbstkritik an der eigenen Rechtsprechung sowie deren nicht vollständige Einheitlichkeit betrachtet Castell als eine der vornehmsten Aufgaben des höchsten Gerichts, weil nur so das Recht vor der Erstarrung bewahrt wird (187). Insgesamt betrachtet führte die Rechtsprechung der Rota in Bezug auf chronischen Alkoholismus zu mancher Klärung in Teilbereichen, aber noch nicht zu einer klaren und wirklich eindeutigen Linie (188-189).
Die Fähigkeit zum Ehevertrag und zur Führung der Ehe wird kurz nach drei Autoren (Hartmut Zapp, Klaus Lüdicke und Joseph Prader) dargelegt. Da sich der Band mit der Rotajudikatur beschäftigt, wäre auch in diesem einleitenden Vorspann eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung in bezug auf die Konsensunfähigkeit und, insbesondere, die relative Konsensunfähigkeit notwendig gewesen. Die Rotajudikatur lehnt dieses Konzept vorwiegend, mit der konstanten und bekannten Ausnahme des spanischen Auditors Jose Serrano, ab. Die Darlegung der Fälle umfaßt den Großteil des Textes (38-61 und 77-156). Es werden jeweils Sachverhalt, Rechts- und Sachlage vorgebracht. Die chronologische Darlegung ist nützlich, um sich rasch einen Überblick über die Judikatur zu verschaffen. Obwohl das Buch im Jahr 1997 erschien, wurde die Bibliographie leider nicht auf den neuesten Stand gebracht. Inzwischen wurden nämlich die Urteile der Römischen Rota bis einschließlich zum Jahr 1994 veröffentlicht und einige von ihnen beschäftigen sich mit dem Alkoholismus. Das letzte vom Autor berücksichtigte Urteil hingegen stammt vom 1. März 1989 und wird als unveröffentlicht bezeichnet, obwohl es bereits vor mehreren Jahren veröffentlicht wurde. Leider wurde sehr wichtige neuere psychiatrische Literatur nicht mehr eingebaut wie das DSM (American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical manual of mental disorders, ed. by A. Frances/H.A. Pincus/M.B. First, Washington D.C. 1994), welches in dieser und in früheren Auflagen von der Rota vielfach, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Alkoholismus verwendet wird. Der Rota-Auditor Igino Ragni zitiert dessen dritte Auflage von 1980 in seinem Urteil vom 26. November 1965. Es ist daher mißverständlich, wenn der Autor auf Seite 169 behauptet, daß Ragni das Alkoholdelirium und ähnliche Erscheinungen als organic mental disorders klassifiziert. Er übernimmt vielmehr diese Klassifikation vom DSM-III. Es würde die Kompetenz der Rotarichter zweifellos übersteigen, wenn sie im psychiatrischen Bereich selbst Klassifizierungen vornehmen würden. Ebenso für die Rechtsprechung, besonders im Europäischen Bereich, nicht mehr wegzudenken ist die Internationale Klassifikation psychischer Störungen : ICD-10 Kapitel V (F) ; Forschungskriterien/ Weltgesundheitsorganisation. Hrsg. von H. Dilling, 1. Aufl., Bern [u.a.] Huber, 1994 (Originaltitel: Tenth revision of the international Classification of diseases). Schließlich hätten die Ergebnisse einer eigenen Studientagung der Weltgesundheitsorganisation zum Thema Alkoholismus, welche von Lanversin eigens in seinem Urteil vom 1. März 1989 zitiert wurde, eingearbeitet werden müssen. Immerhin handelt es sich um ein Werk, welches im Auftrag von niemand geringerem als der Weltgesundheitsorganisation in Genf von Marc Keller unter dem Titel «Inca-pacites liees ä la consommation d'alcool» im Jahr 1978 herausgegeben wurde. Der Großteil der verwendeten nur 14 (!) kanonistischen Literaturtitel ist allgemeiner Art und beschäftigt sich nicht speziell mit dem Alkoholismus. Die Literatur in spanischer Sprache blieb unberücksichtigt, ebenso die päpstlichen Ansprachen an die Römische Rota, besonders jene zur psychischen Eheunfähigkeit von 1987 und 1988.
Trotz des genannten Schwachpunkts der bibliografischen Unvollständigkeit, der mehr die wissenschaftliche Verwendung des Werks betrifft, erscheint das Werk für den Gerichtsgebrauch aufgrund seiner präzisen, übersichtlichen und klaren Darstellung als sehr nützlich und empfehlenswert. Kein Zweifel besteht an der präzisen Übersetzung der Fachausdrücke und an der Gabe des Autors, aus der Fülle des in jedem Urteil enthaltenen Materials das Wesentliche und über den einzelnen Fall hinaus Bedeutsame herauszugreifen. Weiters verfügt der Autor über einen objektiven und von aller Leidenschaft freien Stil, der es ihm stets erlaubt, sachlich und deutlich die sowohl im kanonistischen als auch psychiatrischen Bereich bestehenden unterschiedlichen Meinungen darzulegen, wobei er mit entsprechender Begründung dann seine eigene Ansicht anfügt. Für die Mitarbeiter der kirchlichen Gerichte unnötige medizinisch-psychiatrische Spitzfindigkeiten und Detailprobleme wurden klugerweise ausgelassen, um die flüssige Lektüre der Arbeit nicht zu behindern. Der Autor legt in seinem Werk weiters große Vertrautheit mit dem kirchlichen Ehenichtigkeitsprozeß an den Tag und hebt mit großem Scharfsinn und Vollständigkeit genau jene Problematiken hervor, die für den konkreten Gerichtsgebrauch von Bedeutung sind.