Stamm Heinz-Meinolf ,
Recensione: ERIKA HEUSLER, Kapitalprozesse im lukanischen Doppelwerk: die Verfahren gegen Jesus und Paulus in exegetischer und rechtshistorischer Analyse ,
in
Antonianum, 78/1 (2003) p. 391-393
.
Angeregt durch die Feststellung, dass der Evangelist Lukas bei der Schilderung des Prozesses gegen Jesus von Nazareth eine Sonderstellung unter den Synoptikern einnimmt, geht Heusler in ihrer Würzburger Dissertation diesem Phänomen auf den Grund und bezieht aus der Apostelgeschichte auch den ebenfalls von Lukas berichteten Prozess gegen Paulus mit ein.
Das Werk gliedert sich in zwei Teile, die in fortlaufend durchgezählte Kapitel unterteilt sind: I. Die Gerichtsverfahren gegen Jesus und Paulus im lukanischen Doppelwerk. 1. Das Verhör vor dem Hohen Rat (S. 8-46); 2. Die erste Verhandlung vor dem Statthalter (S. 46-92); 3. Die Einschaltung des jüdischen Königs (S. 93-134); 4. Die zweite Verhandlung vor dem Statthalter (S. 134-182). II. Das römiche Strafverfahren der späten Republik und der frühen Kaiserzeit - Modell der lukanischen Prozessberichte? 5. Der Ausgangspunkt (S. 184-197); 6. Die römische Strafgerichtsbarkeit im ersten Jahrhundert n.Chr. (S. 197-217); 7. Das römische Akkusationsverfahren (S. 218-238); 8. Das Strafverfahren des ordo als Modell der lukanischen Prozessberichte (S. 239-259); 9. Schlussfolgerungen: das Verfahren gegen Jesus von Nazareth im Evangelium des Lukas (S. 259-266). Ein umfangreiches Quellenverzeichnis und Literaturverzeichnis (S. 268-284), ein Stellenregister (S. 285-288), ein Wortregister (S. 289-290) und ein Namenregister und Sachregister (S. 291-294) schlüsseln das Werk noch weiter auf.
Im ersten Teil werden die Prozesse gegen Jesus und Paulus analysiert, wobei für die einzelnen Verfahrensschritte jeweils parallel zunächst das Verfahren gegen Jesus und anschließend das gegen Paulus herausgearbeitet wird: Verhaftung; Ratsversammlung; Ratsszene; Statthaltergericht: erster Verhandlungsgang; klagende Partei; Erhebung der Anklage; Verteidigung; Vertagung des Falles; Ausbau des Instanzenweges; jüdischer König; Prozesscharakter; Statthaltergericht: zweiter Verhandlungsgang; Erhebung der Anklage; Verteidigung; Rechtsmittel der Verteidigung; Entscheidung.
Im zweiten Teil sodann wird das römische Strafverfahren der späten Republik und der frühen Kaiserzeit dargelegt: Stand der Forschung; Quellenlage; die verschiedenen Prozessarten und prozessleitenden Behörden; das besondere Delikt: seditio, Aufruhr gegen Rom; die unbeschränkte Koerzition der Provinzstatthalter in Judäa; das Kognitionsverfahren; die am Prozess Beteiligten: Kläger, Beklagter, Richter, Geschworene; Gerichtszeit und Gerichtsort; Prozessverlauf: Einleitung des Gerichtsverfahrens durch den Magistrat, Beweisverfahren, Findung des Urteils; Wege der Aussetzung der Strafe für römische Bürger.
Schließlich wird gezeigt, wie der ordo des römischen Strafverfahrens als Modell für die lukanischen Prozessberichte diente: Verhör vor dem Hohen Rat - Einleitung des Verfahrens; erste Verhandlung vor dem Statthalter - erstes Beweisverfahren; Einschaltung des jüdischen Königs - zweites Beweisverfahren; zweite Verhandlung vor dem Statthalter - Findung des Urteils.
Als Ergebnis ergibt sich für Heusler, dass Lukas seine Prozessdarstellungen als Apologie gegenüber Rom, «dem für ihn nach Jerusalem neuen Zentrum und Brennpunkt des Christentums» (S. 259), schreibt. Es ist das Ziel des Lukas aufzuzeigen, dass die «Nazoräersekte» (Apg 24,5), die sich als Nachfolgebewegung eines wegen Aufruhrs gegen Rom Verurteilten versteht und die im Grunde zusammen mit Jesus und Paulus auf der Anklagebank sitzt, politisch völlig untadelig ist und sich ohne Bedenken im römischen Reich etablieren kann.
Wie in keinem anderen Evangelium betont in der Lukaspassion Pilatus die Schuldlosigkeit Jesu und die Absicht, ihn wegen erwiesener Unschuld freizulassen. Auch der römische Hauptmann unter dem Kreuz bestätigt dieses Zeugnis. Ähnlich weist Gallio, Prokonsul von Achaia, die jüdische Anklage gegen Paulus zurück, und der Oberst Claudius Lysias sowie die Statthalter Felix und Faustus können in den Klagepunkten gegen Paulus nur innerjüdische Glaubensstreitigkeiten erkennen. Sowohl bei Jesus wie bei Paulus sprechen sich sogar die jüdischen Könige wie die Statthalter für die Schuldlosigkeit aus.
Vor allem aber das ordentliche römische Gerichtsverfahren - also nicht nur ein einfaches Schnellverfahren -, das Jesus und Paulus zuteil wird, erweist aufs Deutlichste ihre politische Unbedenklichkeit. Mehr noch, den Beschuldigten gehört darüber hinaus die Solidarität der römischen Richter. «Wenn man ... die Anklage der seditio in ihrem ganzen Gewicht, in ihrer fundamentalen Bedrohung für das Gemeinwesen und die pax Romana in den Blick nimmt, kann man sich um so sicherer sein: Rom ist - nach der lukanischen Darstellung - von der politischen Ungefährlichkeit von Jesus und Paulus absolut überzeugt. Der Vertreter Roms spricht sich nicht nur für ihre Loyalität aus, sondern setzt seine Auffassung auch noch in ein faires Verfahren um. Für Paulus als römischen Bürger mag dies als selbstverständlich anmuten, für Jesus als Provinzialen hingegen ist es weitaus mehr, als ihm rechtlich zusteht... Die Integrität des Nazareners verdient es und wird durch nichts besser hervorgehoben als dadurch, dass man ihm den Respekt eines Bürgers von Rom erweist» (S. 262).
Auf die Frage, weshalb es dann aber doch nicht zum verdienten Freispruch von Jesus und Paulus kommt, sondern zur Verurteilung, antwortet Lukas nicht mit generellen Schuldzuweisungen. Keine Gruppierung ist letztlich allein schuld, und keine ist ganz unschuldig. Die Hohenpriester und Schriftgelehrten mag ein Hauptteil an Schuld treffen. Aber auch die Römer sind in ihrem Rechtsverhalten nicht einwandfrei. Der Statthalter Felix verschleppt den Prozess gegen Paulus, der Statthalter Faustus bezeichnet Paulus als verrückt, der Statthalter Pilatus verhängt über Jesus gegen seine Überzeugung die Todesstrafe, und das alles im Grunde lediglich, um den Juden einen Gefallen zu erweisen. Paulus wählt selbst die Berufung an den Kaiser, die dann gerade mit die Freisprechung verhindert. Pilatus greift, um Jesus zu retten, zum Rechtsmittel der Gnadeninstanz des Volkes, aber gerade dadurch erreicht er genau das Gegenteil. Hinter allem jedoch, so macht es Lukas deutlich, steht letztendlich der Heilsplan Gottes.
Heusler schließt: «Indem Lukas mit den beiden großen Kapitalprozessen in seinem Doppelwerk seine Vorstellung von einem ordentlichen römischen Gerichtsverfahren verwirklicht, zeigt er sich nicht nur als großer Theologe, sondern präsentiert auch sein juristisches Interesse und Wissen. Statt Arzt könnte Lukas eher Jurist gewesen sein».
Die Arbeit besticht durch den klaren und logischen Aufbau. Heusler musste sich nicht nur gemäß ihrer Hauptdisziplin in die Exegese der lukanischen Überlieferung vertiefen, sondern auch auf dem ihr fremden Gebiet des antiken römischen Rechtes den ordo des klassischen römischen Strafverfahrens herausarbeiten, was bei der kärglichen Quellenlage nicht einfach war. Das für die neutestamentliche Exegese äußerst wichtige Ergebnis ist zweifellos reicher Lohn der doppelten Mühe.
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